Eine Phantasie

Nachdenkliches zu Tierschützern

Die Lokomotive des SCHNAUZERL

Der ehemalige Stierkämpfer schleppt sich die Treppe hinauf. Das Kreuz bleibt steif, so daß er jedesmal, wenn ein Fuß eine Treppenstufe höher setzt, in Schwierigkeiten gerät, weil das obere Bein jetzt das ganze Gewicht tragen muß. Viel ist es nicht. Der ehemalige Stierkämpfer besteht aus Haut und Knochen. Seine Füße sind angeschwollen und glänzen wie Wachs. Der Krankenpfleger weiß, daß ein Druck seiner Fingerkuppe eine Delle hinterlassen würde.

Der Krankenpfleger haßt den Stierkampf. Es tut ihm gut, den ehemaligen Stierkämpfer jetzt so hilflos zu sehen. Am liebsten würde er ihn die Treppen hinabstoßen. Es wäre ganz einfach. Es wäre viel einfacher als einen Stier zu töten. Es fällt dem Krankenpfleger schwer, sich vorzustellen, daß dieses Knochengerüst, das sich nun mit pfeifender Atmung an seinem Arm festklammert, vor ein paar Jahrzehnten in der Lage war, einen wütenden Fleischberg von 600 Kilogramm zu töten. Seine Beine haben jetzt den Umfang kräftiger Männerarme, aber keineswegs deren Farbe, immerhin bewegen sie sich in den Gelenken. Die Farbe der Beine ist die Farbe blaßrosaroter Teller, auf denen Mokkapudding mit Blaubeeren serviert und gründlich verschmiert worden ist. Die Haut der Unterschenkel muß jeden Tag mit Mengen von Fett eingeschmiert werden, sonst lösen sich große Schuppen. Die Schuppen lösen sich auch, wenn die Haut eingefettet wird, sind aber nicht sehr groß. Nach der Behandlung liegen sie überall, auf dem Bett, dem Boden, auf der Hose des Krankenpflegers.

Einmal entdeckt der Krankenpfleger als er spät am Abend in seiner Stammbar nach einer Olive greift, eine Schuppe, die am Endglied seines kleinen Fingers hängengeblieben war. Kleine Beben des Ekels und des Hasses erschüttern ihn. Er stellt sich vor, daß der ehemalige Stierkämpfer zum letzten Mal in seinem Leben eine Stierkampfarena betreten müßte. Man würde ihn einfach dazu zwingen. So ähnlich wie im alten Rom. Dennoch nicht so grausam, da man ja den ehemaligen Stierkämpfer nur bitten würde, seinen ehemaligen Beruf auszuüben.

Die Freunde des Krankenpflegers finden die Idee großartig. Es sind ja alles Tierschützer. Daß der ehemalige Stierkämpfer der Einladung zu seinem letzten Gefecht voraussichtlich nicht freiwillig nachkommen würde, halten die Tierschützer für unrelevant. "Der Stier", stimmen sie überein, "kommt der Einladung zum Kampf auch nicht freiwillig nach." Man müßte den ehemaligen Stierkämpfer also zwingen. Eine Entführung bot sich an. Bei den Ortskenntnissen des Krankenpflegers wäre dies kein Problem.

Zum Glück schließt bald die Bar und die Tierschützer gehen nach Hause. Auf der Straße tritt ihnen eine Kuh entgegen. Abrupt unterbrechen die Tierschützer Konversation und Nachhauseweg. Statt neben- stehen sie nun hintereinander. Der Mutigste versucht Kontakt mit dem Rind aufzunehmen und sagt: "Guten Abend Kuh." Die Kuh reagiert nicht. Nun versuchen auch die hinteren Reihen die friedliche Absicht der Demonstration zu unterstreichen. Ein Polizist nähert sich pfeifend. Er ignoriert die Kuh und bittet die Tierschützer darum, sich auszuweisen. Keiner der Tierschützer ist dazu in der Lage. "Dann sehe ich mich gezwungen", sagt der Polizist, "sie darum zu bitten, gegen diesen Stier zu kämpfen, der als Kuh getarnt ist." Ein zweiter Polizist nähert sich pfeifend. Er duckt sich unter die Kuh, hantiert dort unten herum und hat - als er auftaucht- ein überraschend großes Plastikeuter in der Hand. Die ehemalige Kuh schnaubt. "Ole!", sagt der erste Polizist. "Wer möchte freiwillig?", fragt der zweite Polizist. Niemand möchte.

"Dann sehe ich mich gezwungen", sagt der erste Polizist, "s i e darum zu bitten, den Kampf aufzunehmen." Er zeigt auf den Krankenpfleger. Der Krankenpfleger weiß, daß gegen die Staatsgewalt jeder Widerstand zwecklos ist und bezieht Position. Der zweite Polizist pfeift einen Paso-Doble und die Corrida kann beginnen. Der Krankenpfleger rennt um sein Leben. "Er verwechselt die klassische Corrida mit dem Austrieb der Stiere, wie bei der Fiesta von Pamplona", sagt der erste Polizist und pfeift, aber in seine Trillerpfeife. Der Stier hält das für seinen Einsatzbefehl, senkt sein Haupt, tänzelt auf der Stelle und rennt dann los. Vor dem Haus des ehemaligen Stierkämpfers bricht der Krankenpfleger zusammen. Einige abschließende Muskelzuckungen ermöglichen es, daß sein Körper das Gatter überwinden kann, dahinter bleibt er reglos liegen.

"Es ist alles eine Frage des Stiles", sagt der ehemalige Stierkämpfer, als er den Krankenpfleger am nächsten Morgen entdeckt. Der Stier steht wieder dort wo er hingehörte, 50 Meter oberhalb der Autobahn, monströs und dennoch harmlos, eine Kognakwerbung aus Blech und Eisen. Zwischen Schwanz und Rücken ist wie immer in blauer Farbe ein Streifen südspanischen Himmels aufgepinselt.